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Mehr House Partys, bitte!

  • Sophie
  • Jun 5, 2014
  • 6 min read

Eine Hand voll ehrliche Worte

über Deutschlands finsterste Party-Meile.

Die Reeperbahn.

Gestern trieben sich mein Bruder und seine halbstarken Kumpels mal wieder im Garten rum, den sonnigen Samstagnachmittag mit emsigem Werkeln beschäftigt. Grade nichts sinnvolles zu tun, bespähte ich sie (ein wenig) hinter meinem Fensterglas, als ich mich plötzlich über mich selbst wunderte. Warum war ich nie auf die Idee gekommen???!


Zwar hatte mich die Nichtsnutzigkeit jenes Gartenkellers unter unserem Haus immer amüsiert, verirrte ich mich mal die modrige Kellertreppe herunter. Warum wohl betagte Drahtesel so viel Platz für ihr Gnadenbrot benötigen...?! Was für ein Segen, dass wenigstens mein kleiner Bruder noch das Potenzial rechtzeitig erkannte und seitdem den Pinsel schwingt. An einen Party-Keller hatte ich im Traum nicht gedacht.


Nein, stattdessen war ich immer an den selben Ort gerannt: Die Reeperbahn.


Das einzig blöde nur:

Krame ich in meinen Erinnerungen nach berauschenden Nächten, helfen mir dieser Kiez, oder die "Geile Meile" (Zitat Udo Jürgens) am wenigsten auf die Sprünge. Unzählbar die Wochenenden, die man da versackte, erbärmlich an den Händen abzuzählen die positiven Erinnerungen, die man davon mitgenommen hat. Obwohl mir schnell blühte, dass mich die ranzige Location samt ihres Völkchens stets nur aufs neue enttäuschen konnte, übte auch auf mich der Kiez seinen unwiderstehlichen Sog aus, immer wieder aufs neue die Rolltreppe in die Swinger-Reklame-Welt hinaufzufahren, in der Hoffnung eines "doch mal netten" Abends - um dann bitterlich enttäuscht zu werden.


"Leonie hat gesagt, sie wird niemals auf den Kiez gehen", verkündete hoffnungsvoll gerührt einst ein Familienfreund. Er wie ich wussten schon bei der Aussprache dieses Satzes, dass jenes Vorhaben der Zehnjährigen zweifellos niedlich, doch definitiv realitätsfern war. Oder etwa doch?!


Aus eben diesem Grund schleppte ich meinen Bruder Weihnachten zum ersten Mal auf eine Bar-Tour. Denn natürlich geht man als Hamburger auf den Kiez und natürlich würde es mein Bruder ebenfalls in naher Zukunft tun. Da wollte ich wenigstens die erste sein, die ihn in diesen Zirkus einführte. Irgendwo kann man es auch keinem verübeln, in der bunten Menge für ein bisschen Gaudi abzutauchen. Es gibt schlichtweg nichts anderes für Hamburger Jugendliche. Blicken lassen darf man sich ohne Ausweis nur noch in den wenigsten Kneipen nach 22:00 Uhr und Gleichaltrige trifft man dort auch nicht mehr, weil jedem Wirt die Jugendschutz-Erklärung quer im Magen liegt. So soll man am besten ganz wegbleiben! Da regnet es auch nicht an Alternativen. Schön und gut, ein paar nette Bars und Kneipen lassen sich immer noch in Altona finden, aber ob man dort mit all den Rudolpf-Steiner-Jüngern immer seinen Namen tanzen will...?!





Kommen wir zurück zu Weihnachten, wo ich Victor unter meine Fuchteln nahm. Da fuhren wir also die altbekannte Rolltreppe hinauf und wurden mitten ins Fiasko geworfen. Eine Gruppe Unheilvoller hatte sich vor ein paar Straßenmädchen aufgebaut und sie anscheinend belästigt. Wie ein Lauffeuer breitete sich plötzlich eine Massenpanik um sie aus, die den gesamten Bürgersteig ansteckte, die Prostituierten "Haut ab, haut ab" jaulen und die Männer wild erzürnt um die Ecke preschen ließ. Von der anderen Straßenseite konnten wir nur zu Eis erstarrt zusehen, wie sie mit bloßen Fäusten auf eine Haustür einschlugen. Das hatte den Effekt, dass eine weitere Meute aus dem Treppenhaus losgelassen und auf die Straße getrieben wurde. Die assigen "Angreifer" nahmen Reiß aus (was auch immer ihr Anliegen gewesen sein mag), während ihre Verfolger sich an ihre Versen hefteten. Im Gewühl konnte ich noch erkennen, wie sich eine kleinere Gestalt 'ne Knarre in die Innenseite seiner Jeans-Jacke schob, sich barsch nach rechts und links umsah und dem Rest dann nachsetzte. Doch damit sollte nicht genug sein.

Um die Hausecke gebogen lag mitten auf der Haupt-Vergnügungsmeile ein Mann zu Boden und ein anderer trat immer wieder zu - fuchsteufelswild stieß er ihm den Fuß in die Schläfe. So schnell wie alles begonnen hatte, war der Spuk auch schlagartig wieder vorbei. Alles hatte sich in Luft aufgelöst.Ich sah meinen Bruder von der Seite an. Sonst so cool, musste er erstmal sein Sprechwerk wieder zuklappen. Immer noch geschockt, grinste er mich an: "WOW- WOw - wow". Prima, dachte ich mir, das fängt ja toll an! In meiner gesamten Kiez-Ära hatte ich sowas nicht erlebt. Und kaum schleppte ich mein jüngeres Geschwisterkind hierher, stolperte man mitten in einen Zuhälter-/Banden-Was-auch-immer-Krieg!Dann wiederum dachte ich mir, warum die Wahrheit in Zuckerguss tauchen?! Jetzt wusste er wenigstens was lief. Wie nervig fand ich immer meine Mutter, wenn sie nachts vor Sorge kein Auge zutat, bis ich vom bösen Kiez zurückkehrte...! Den faden Nachgeschmack von Brutalität und Gangster-Politik noch im Gaumen, gefiel mir jetzt der Gedanke allerdings überhaupt nicht mehr, dass mein Bruder hier herumstromern und solchen Kerlen in die Arme laufen könnte - mit einem im Tee... In was für einem Gesox tauchte man hier eigentlich ab?!





Die Zeit schreibt: <Detlef Ubben, der mehr als zehn Jahre Chefermittler im Bereich Menschenhandel und Zwangsprostitution des LKA war, schätzt, dass bis zu 95 Prozent der rund 2.250 Prostituierten in Hamburg nicht freiwillig arbeiten. Der aktuelle Leiter der zuständigen Abteilung für organisierte Kriminalität, Jörn Blicke, formuliert es vorsichtiger: "Ein sehr hoher Anteil der Prostituierten arbeitet nicht selbstbestimmt oder nicht für sich selbst." Manche Frauen werden erpresst, andere geschlagen, manche werden von ihren Partnern oder ihrer Familie dazu angehalten, und trauen sich nicht, sich zu wehren.>

Quelle: (http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-10/zwangsprostitution-deutschland-menschenhandel) <Hierzulande wird kein anderer Ort so sehr mit sündigem Treiben in Verbindung gebracht wie die Hamburger Reeperbahn. Laut „Times“ gehört sie zu den dunkelsten, schmutzigsten und gefährlichsten Straßen Europas. Mit ihr messen können sich nur der Place Pigalle in Paris, die Damstraat in Amsterdam oder Wenzelsplatz in Prag.> (http://www.berliner-zeitung.de/reise/reeperbahn--place-pigalle---co--die-suendigsten-meilen-europas,10808656,8276006.html) - urteilt die Berliner Zeitung. Charmant! Zwangsprostitution, folglich ein Haufen Drogen, Mafia und blaue Veilchen. Klingt es da nicht schon sonderbar, dass ausgerechnet schnöselige ELBVORORTLER freudig in diesen Sündenpool springen, Wochenende für Wochenende - mit anderen Worten ihn zu ihrer Nr.1-Feier-Meile gemacht haben?! Je mehr ich drüber nachdenke, desto mehr ist es mir ein Rätsel, wie man seine Schützlinge 14-16 Jahre (je nach Frühreife) in die Elbvororts-Watte packt, damit sie dann in ihrer Wohlstandsblase mitten in die Gosse schweben! Und bei aller Hysterie geht es hier nicht um eine Frage der Sicherheit, denn irgendwie scheint ja meistens alles glatt zu gehen. Was ich mich frage, warum in Gottes Namen finden wir den Kiez so schön???






Liegt es am verruchten Drecks-Flair, verströmt von dunklen Ecken, zersplittertem Bierfalschen, in Schlafsäcken mumifizierten Schnapsleichen, alten Kondomen, Erbrochenem, verbrauchten Gesichtern und "inspirierenden" Sadomaso-Fachgeschäften?! Der einzig ungetrübte Blick liegt in den erschrockenen Augen der Touristen! Aus der breiten Masse springen sie einem nämlich grade zu entgegen, so verdutzt und unverhohlen schockiert. In großen Schwärmen aus ganz Deutschland rangebusst, haben sich die Musical-Besucher noch hoffnungsfroh fein herausgeputzt und begreifen meistens erst vor Ort, wie wenig nötig das war! Denn Stiletto hin- oder her, der Kiez bleibt abgefuckt. Natürlich ausgenommen dem "Sehen-und-gesehen-werden-Treff"/ der Klause. Jaa, am Hans-Albers-Platz muss man nicht zwingend auf die Verlierer der Gesellschaft blicken, denn zu genießen gibt's auch Exotisches. Aufgestellte Polokragen geben sich wichtig die Ehre, wenn sie nicht grade eine Schlägerei provoziert haben (um anschließend ziemlich blöd aus der Wäsche gucken, wenn ihnen die Assi-Faust tatsächlich die Nase zertrümmert hat). Die 14-Jährigen Ausweis-Schlawiener tragen ihre Mini-Röcke aus und unterscheiden sich, böse gesagt, nur noch von den Freudendamen, weil sie statt Moon-Boots Uggs kombinieren. Wahrscheinlich sollte ich mir genau jetzt die Zunge abbeißen. Natürlich gibt es auch ganz normale Seelen, die auf dem Teppich bleiben und einfach nur in der Seemanns-Kneipe ihr Astra trinken wollen. Aber von diesen zu erzählen, wäre ja fast langweilig... Skurril finde ich an der ganzen Geschichte nur die Mischung der Kiez-Seelen. Der Mix macht's sozusagen. Während sich die Moonboots auf der Straße behaupten und ihr Geld bitter verdienen müssen (ja,ja sie tuen es ja freiwillig und auch so gern etc.), schwirren die Rich-Kid-Uggs drumherum und feiern. Pony-Hof ist eben nur für manche angesagt.





Dass mir der Kiez immer weniger gefällt, ich ihn (um genau zu sein) sogar ziemlich scheiße finde, traue ich mich immer mehr zu sagen. Je länger ich im Ausland war und andere Feier-Kulturen auskostete, desto mehr fiel mir Reeperbahns Schäbigkeit auf. Nachdem ich in Barcelonas Beach-Clubs oder in Oxfords rauschenden College-Feten hatte hineinschnuppern dürfen, dämmerte es mir, was ich immer auf dem Kiez vermisst hatte.

All das Latein-Nachhilfestunden-schwer-erschuftete-Geld, vom Kiez verschlungen, stecke ich nun (falls überhaupt übrig) bei Weitem lieber in Locations, die mir nicht das Gefühl vermitteln, fürs Feiern sprichwörtlich in die PartyHÖLLE/ die düsteren Untiefen des Lebens hinabsteigen zu müssen. Ich will dahin, wo man die Kirsche noch aus dem Cocktailglas fischt und seine perlenbestickte Clutch nicht aus der Kotze angeln muss.

Zu meiner Überraschung scheint das nicht nur mir so zu gehen. "Den Kiez hab ich echt nicht vermisst" und "das ist irgendwie nichts mehr für mich" habe ich mittlerweile schon von einigen Freunden zu Ohren bekommen, die ebenfalls ihre Fühler austreckten. Doch wie Vergleiche anstellen und sich eine Meinung bilden, wenn der Mainstream einen jahrelang nur auf den verruchten Kiez verwies?! Dort, wo einem in 95% der Fälle "sooo vieel Spaaaaaß" eigentlich nur vom Dilirium vorgegaukelt wurde. Kein Wunder, anders erträgt man den Kiez eigentlich auch nicht. Deshalb mein Appell an die glorreichen alten House Partys! Mit zehnfach doppeltem Charaktergehalt als die trübe, immer gleiche Kiezsuppe, sollten wir sie aus unserem Gedächtnisfundus graben und neu auflegen, oder einfach in den Party-Keller meines Bruders stolpern! Auf zu neuen Ufern, scal!





 
 
 

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